Warum unsere Zivilisation uns befremdet

von Gerald Reuther

Kulturschock nennt man einen emotionalen Zustand, der durch Konfrontation mit einer fremden Kultur ausgelöst wird. Die Empfindung stürzt dabei aus einer anfänglichen Euphorie ab, direkt in ein Gefühl absoluter Fremdheit. Der Schockierte sieht sich isoliert in der fremden Umgebung: Ausgeschlossen vom alltäglichen Verstehen und Verstandenwerden der Menschen! Bleibt die Frage: Wie sieht es eigentlich bei der Konfrontation mit unserer eigenen Kultur aus?

Berlin, Wedding. Gleich bei mir um die Ecke gibt es zwölf Apotheken. Ehrlich! Ich habe nachgezählt: Zwölf Apotheken im Radius von 500 Metern. Ich frage mich immer: Woher nehmen zwölf Apotheken in einem so kleinen Bezirk ihre Kunden? Was verkaufen die alle? Schmerzmittel gegen den Weltschmerz, der uns automatisch befällt, wenn wir an ihnen vorübergehen?

Dem muss genauer nachgegangen werden. Ich frage Peter L., Assistent am Virchow-Klinikum, worunter meine Nachbarn so leiden. "Wir behandeln hier auffallend viele Verletzungen im Gesichtsbereich.", antwortet er, "Kieferrekonstruktionen aus Rippen oder Oberschenkelknochen, zum Beispiel. Und die Patienten können sich bei ihrer Ankunft häufig kaum verständlich machen, weil sie noch unter starkem Alkoholeinfluss stehen oder gar kein Deutsch sprechen." Es handelt sich, soviel wird deutlich, um eine Form von akutem Weltschmerz, den man sich postwendend aus dem Leib prügeln muss.

Einen Bezirk weiter hat man ganz andere Probleme. Geht man hier durch die Straßen, dann spürt man - ganz unmittelbar - dass körperliche Gewalt hier eine untergeordnete Rolle spielt. LoHaS nennen Marktforscher die ansässige Klientel: "Lifestyle of Health and Sustainability". Das ist sehr Neudeutsch und bedeutet, dass jemand seine Freizeit mit gesunder Ernährung und nachhaltigem Ressourcenverbrauch verbringt.

Ein gewöhnlicher Bewohner einer Großstadt bewegt sich täglich durch eine unüberschaubare Menge an verschiedenen, vollkommen unvereinbaren Kulturen. Der Universitätsprofessor glaubt, dass Wahrnehmung die Welt neu erschafft. Der Leiter eines Supermarkts hält 27 Sorten Ketchup für einen Gewinn an Kundenservice. Der Psychologe geht davon aus, dass Menschen über eine unbekannte, dunkle Tiefe in sich verfügen, wo sie all das speichern, was sie nicht mehr wissen wollen. Und die Marktforscher von e.on vertreten die Ansicht, dass beim Kunden die Bereitschaft besteht, Geld an einen deutschen Stromkonzern zu spenden - im Gegenzug für das Versprechen, denselben Strom "natürlicher" herzustellen.

Sie haben natürlich alle Recht. All diese Aussagen machen in einem spezifischen, kulturellen Zusammenhang Sinn. Sie ignorieren die Oberfläche dessen, was wir Leben nennen, aber sie machen Sinn.

Die Vorstellung jedoch, dass sie gleichzeitig in ein- und derselben Welt gemacht werden, erscheint schlechthin absurd.  Und der Versuch, die Zusammenhänge mit gesundem Menschenverstand zu erklären und zu begreifen, scheitert prinzipiell. Kein einheitliches, konstantes und dennoch nützliches Orientierungssystem ist mit der gesamten Lebenswelt einer Großstadt und all ihren Mikrokosmen vereinbar. Konzessionen an die aktuelle Situation sind nicht zu vermeiden und wer sich selbst treu bleibt, begeht darin gesellschaftlichen Selbstmord.

Das Leben zwischen den Mikrokulturen erfordert also Anpassungsleistungen. Und diese Anpassungen müssen nicht nur in Randbereichen wie Mode oder Kommunikation erfolgen, sondern im Bewusstsein selbst. Was man an einem bestimmten Ort problemlos behaupten kann, gilt längst nicht mehr automatisch auch an einem anderen Ort. Dieselbe Aussage, die im Berufsleben vollkommen logisch erscheint, würde im Freundeskreis Empörung hervorrufen. Und was im Freundeskreis besprochen wird, dürfte den Kollegen niemals zu Ohren kommen. Schlimmer noch, ein ganzes Thema verliert vielleicht seine Berechtigung, nur weil man ein Zimmer - mit seinen spezifischen kulturellen Regeln - verlassen hat. Oft erscheint es sinnvoll, einfach überhaupt nichts wichtiges mehr beizutragen, nicht weil man nichts zu sagen hätte, sondern weil sich die Folgen kaum abschätzen lassen. Die Folge:

"Der Gesichtskreis, aus dem die Konversation ihre Gegenstände schöpft, hat sich objektiv, durch die fortgeschrittene Theorie und Praxis, erheblich erweitert; und doch scheint es, als ob die Unterhaltung, die gesellschaftliche wie auch die intimere und briefliche, jetzt viel flacher, uninteressanter und weniger ernsthaft wäre als am Ende des 18. Jahrhunderts." (Simmel 2009, S.720)

Die Spielregeln einer spezifischen Kultur sind schwer zu durchschauen. Nichts desto weniger wechselt der Mensch in unserer Zeit sein Umfeld mehrmals am Tag, wird vom Bankangestellten zum Familienvater, und dann zum besten Freund. Er sieht sich eine Fernsehsendung über Drogenkonsum an, surft durch Internetportale zur Kulturpolitik und ißt wahlweise beim Chinesen, Inder, Araber oder Italiener. Natürlich bereichert all das ein Leben, aber es gefährdet den inneren Zusammenhalt dessen, was wir Identität nennen. Georg Simmel hat diese Konfrontation zwischen objektiver und subjektiver Kultur einmal als "Entfremdung" bezeichnet. Man kann es aber auch anders nennen: Leben wir einen chronischen Kulturschock?

"Culture shock has been identified as a psychological reaction to a change in cultural environment. The main symptoms of culture shock are reported  to be psychological disturbance, a negative reaction to the new surroundings and a longing for a more familiar environment." (McKinlay u.A. 1996, S.396, vgl. Meintel 1973)

Das plötzliche Gefühl, fehl am Platz zu sein, befällt uns immer häufiger direkt in der Heimat. Überraschend dringt es in unseren Alltag ein. Und dann beginnt es, sich auszubreiten. Es gibt keinen klinischen Begriff, der das Befremden beschreibt, das uns befällt, wenn wir heute unsere eigene Kultur betrachten. Kultur verändert sich so schnell, dass wir nicht einmal mit den Krankheitsbezeichnungen nachkommen. Depression, burnout oder Kulturschock, die Bezeichnungen sind in schnellem Wandel begriffen.

Tatsächlich dürfte die Wahrnehmungsstörung sich ohnehin in Grenzen halten. Die vom Schock betroffenen haben vielmehr Recht. Die Gegenwart ist eben vernetzt, medial und bewegend. Vernunft wird durch Kommunikation ersetzt, Raum und Zeit durch Bewegung, und Orthografie durch Schriftgröße. Informationen haben zu fließen begonnen, nicht mehr wie Bäche, sondern wie reißende Fluten, die jeden Gedanken verschlingen. Nur der Mensch, der ist der alte geblieben. Er steigt aus dem Bach, den er seit seiner Jugend gekannt hat, blickt auf die unbekannten Fluten zurück und bemerkt, dass man darin gar nicht mehr schwimmen kann. Culturschock ist die Kunst, damit einfach zu leben.

 

Literatur

McKinlay, N. J./ H. M. Pattison/ H. Gross: "An Exploratory Investigation of the Effects of a Cultural Orientation Programme on the Psychological Well-Being of International University Students." Higher Education. Vol. 31/ 3, S. 379-395. Amsterdam. 1996.

Meintel, Deirdre A.: "Strangers, Homecomers and Ordinary Men." Anthropological Quarterly. Vol. 46/ 1, S. 47-58. Washington. 1973.

Oberg, Karlevo: "Culture shock: adjustment to new cultural environments." Practical Anthropology. Vol. 7, S. 177-182. 1960.

Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Köln. (1900) 2009.